Ein Mensch
Es war ein wunderschöner und lustiger Abend. Die Pizza war herrlich
- ich bin mir sicher, dass dies die beste Pizzeria war, die Wien zu bieten
hat. So richtig satt und zufrieden eile ich in Richtung Westbahnhof. Ein
Blick auf die Uhr. Beinahe 1 uhr morgens - es ist wirklich Tempo angesagt,
um den nächsten Zug nach Linz noch zu bekommen.
Ah, das Portal des Westbahnhofes ist schon zu sehen. Noch 10 Minuten Zeit
bis zur Abfahrt. Hastig laufe ich die Treppen hoch. Und suche die Anzeigentafel,
um das Abfahrtsgleis meines Zuges ausfindig zu machen.
Ein Mann kommt auf mich zu und hält mir eine Zeitung her. Er bittet
mich, sie zu kaufen. Zu meinem Bedauern realisiere ich nicht sofort, dass
es sich um die Obdachlosenzeitung "Augustin" handelt. Und als ich es wahrnehme,
da ist es bereits zu spät. Der Mann ist in der Menge wieder verschwunden.
Irgendwie überfällt mich ein eigenartiges Gefühl. Normal kaufe
ich diese Zeitungen immer. Egal, in welcher Stadt und auf welchem Bahnhof
ich mich befinde. Überall werden diese Zeitungen angeboten. In mühevoller
Arbeit von Obdachlosen gestaltet. Ihr Sprachrohr, das so wichtig ist und
von viel zu wenigen Menschen gehört wird.
Während meine Gedanken noch immer um dieses Ereignis kreisen, steige
ich in meinen Zug und finde ein leeres Abteil. Und schon fährt er los.
Gemächlich rattert der Zug durch die Nacht. Dann ein Stop. Meine
Abteiltür wird geöffnet. Mühsam versucht ein sehr verwahrlost
wirkender Mann, auf seinen Gehstock gestützt, die Türe zu öffnen
und sich in das Abteil hereinzuschieben.
Endlich ist es ihm gelungen und er nimmt aufatmend Platz. Ich mustere
ihn von oben bis unten. Die Kleidung, sehr abgerissen. Die Haare, wirr.
Die Hände, sie ähneln schmutzigen Klauen. Und auch die Kontrolle
über seinen Harnabgang hat er verloren, das ist an der nassen Hose
sehr deutlich zu erkennen.
Und plötzlich spricht er. Mit Entsetzen bemerke ich, dass er sich
entschuldigt.
Er entschuldigt sich dafür, dass er sich in mein Abteil gesetzt hat.
Er entschuldigt sich dafür, dass er diese Nacht kein Bett hat.
Er erzählt mir, dass er krank sei und sie ihn im Krankenhaus trotzdem
nicht behalten haben.
Er entschuldigt sich schlicht und einfach für seine Existenz.
Ich versuche, ihn zu beruhigen. Weiß nicht, wie ich ihm helfen kann.
Verständige ich den Schaffner, so wird er wohl aus dem Zug geworfen
und steht mitten in der Nacht verloren auf einem Bahnhof - oder nicht? Vielleicht
würde der Schaffner sogar helfen? Nur wie?
Mitleid überfällt mich für diesen Menschen - wie er so
hiersitzt in all seinem Elend, seiner Verwirrtheit und seiner Einsamkeit.
Und ich finde immer noch keinen Weg.
Und so steige ich aus in Linz - schleiche mich aus einer Verantwortung,
die mir präsentiert wurde. Löse mich los von diesem Hilfeschrei.
Den Rest dieser Nacht ist es für mich unmöglich, ein Auge zu
schließen. Immer wieder dieses Bild des Menschen vor Augen, der mich
ohne Worte um Hilfe gebeten hatte - alleine nur durch seine Existenz.
Doch sie wurde ihm verweigert.